Die Paradoxie der Illusionen in der kindlichen Entwicklung. Angstbindung, Zerstörung und katastrophische Veränderung

Vortrag von Prof. Dr. Michael Günter am 31. August 2024 um 11.00 Uhr im Institut (im Rahmen des Tages der offenen Tür)

Illusionen sind, einerseits notwendig für die kindliche Entwicklung, müssen andererseits aber auch zerstört werden, um Entwicklung möglich werden zu lassen. Der Vortrag zeichnet zunächst diese Dialektik von Illusionsbildung, Zerstörung der Illusionen und Etablierung neuer Illusionen in der kindlichen Entwicklung anhand der Überlegungen von Balint und Winnicott nach. Kinder und Jugendliche gestalten ihre Ich-Entwicklung mit Hilfe von Illusionen. Man könnte das Ich wie die Ausdifferenzierung der Abwehr ihrerseits als Herstellung von Illusionen im Dienste der Angstbindung verstehen. Anhand dreier Fallvignetten zeige ich auf, wie man Fantasien von Kindern und deren Übertragung unter dem Aspekt eines komplexen Umgangs mit Illusionen verstehen und für die Behandlung nutzbar machen kann. Bei einem Jungen kam es zu einer Unfähigkeit zur Entwicklung von Illusionen und damit zu einer Zerstörung der Denk- und Symbolisierungsprozesse. Bei einem 8-jährigen Mädchen waren die Illusionen derart sexuell aufgeladen, dass sie die Erregung steigerten anstatt als „wertvoller Ruheplatz“ der Vermittlung von innerer und äußerer Realität zu dienen. Bei einer weiteren Patientin galt es, zunächst die Sinnhaftigkeit der Destruktivität und der damit verknüpften Illusionen anzuerkennen. Eine gelingende Abwehr bedeutet für mich in dem Zusammenhang, einen gesicherten inneren Zugang zu frühen Illusionen zu haben oder herzustellen. Dieser ist bei schweren Pathologien in der Kindheit und Adoleszenz beeinträchtigt und damit insbesondere auch die Fähigkeit zur „Negative Capability“ (Bion). Auf diesem Verständnishintergrund hat die analytische Arbeit mit Kindern die Aufgabe, die Fähigkeit unserer Patienten zu unterstützen, spielerischen Gebrauch von Illusionen zu machen.